„Der Fall Koeppen"

Marcel Reich Ranicki

 

 

Wolfgang Koeppen, geboren am 23.06.1906 in Greifswald. Nach einer Zeit der Arbeitslosigkeit fuhr er als Schiffskoch zur See, arbeitete dann in einer Fabrik, als Platzanweiser in einem Kino und stellte in St.Pauli Eis her. Danach war er Dramaturg und Regievolontär; er unterhielt lose Beziehungen zum Kollektiv der Piscator-Bühne, bis er 1931 beim „Berliner Börsen-Courier“ eine feste Anstellung fand. Schon während der zwanziger Jahre schrieb er Artikel für Zeitungen wie „Die rote Fahne“ und den „Vorwärts“. Das Angebot, 1935 zur „Berliner Zeitung zu gehen, lehnte er ab und emigrierte nach Holland. Ende 1938 kehrte er nach Deutschland zurück und schrieb in den folgenden Jahren Drehbücher für die UFA („ich wollte die Zeit abwarten, ich wollte überleben“).1982/83 Poetik-Dozentur in Frankfurt/M. Heute lebt er in München. Er ist Mitglied des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland; Mitglied der Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt.

Preise: Preis des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie (1961); Förderpreis der Landeshauptstadt München (1961); Georg-Büchner-Preis (1962); Preis der Bayrischen Akademie der Schönen Künste (1965); Preis der Dichtung der Stiftung zur Förderung des Schrifttums (1967); Immermann-Preis (1967); Andreas-Gryphius-Preis (1971); Förderpreis der Stadt Bergen-Enkheim (= Stadtschreiber von Bergen-Enkheim) (1974); Hauptstipendium des Europa-Forums für Literatur in der Friedrich Schiller-Stiftung (1977); Münchner Kulturpreis (1982); Arno-Schmidt-Preis (1984); Pommerscher Kulturpreis für Kunst (1986); Ehrendoktorwürde der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (1990).

 

 *Feuilletonredakteur

   (Kultur- oder Kunstteil einer Zeitung)

 

literarische Anfänge und Gesamtwerk

 

„Eine unglückliche Liebe“ 1934 (Roman)

„Die Mauer schwankt“ 1935 (Roman)

-         erschien 1939 unter dem Titel „Die Pflicht“ ;erst wieder 1983 mit aktualisiertem Vorwort  erschienen (Fundstelle)

 

-         1948 erschien ein Roman

-         Autor: Jakob Littner

-    Titel: „Aufzeichnungen aus einem Erdloch“

-    1992 unter dem Namen des tatsächlichen Autors publiziert

-    Wolfgang Koeppen „Jakob Littner  Aufzeichnungen aus einem Erdloch“

-         Tauben im Gras“ 1951 (Roman)

-         „Das Treibhaus“ 1953 (Roman)

-         „Der Tod in Rom“ 1954 (Roman)   ® (Inhaltsangaben s.hinten)

           -(Triologie: beschreibt Nachkriegszeit Westdeutschlands präzise  

             und komplex)

-         ab 1960:Erfolg mit einigen wenigen außergewöhnlichen Reiseberichten

„Nach Russland und anders wohin“

„Amerikafahrt“

„Reisen nach Frankreich“

-         Lesungen aus entstehenden Romanen, die nie erscheinen:

     “Ein Maskenball“,

     “In Staub mit allen Feinden Brandenburgs“(Kleist: „Prinz von Homburg“)

-    bemerkenswerte Interwiews

-         von der angekündigten Autobiographie ist der schon früher entstandene Teil

    „Jugend“1976 erschienen. Geplanter Titel: “ Nein, nein, nein.“

-         Erinnerungs-Notate „Er war einmal in Masuren“1991

-         Aufsatzsammlung „Die elenden Skribenten“ Im Laufe der Jahrzehnte hunderte von Rezensionen  und Interpretationen, Essays

-         Zwei Zitate zu seiner Position:

- „Ich bin selbstverständlich auch ein Schriftsteller, wenn ich nicht schreibe.“

-         „ Wer etwas zu sagen hat, der trete vor und schweige“ ( hier zitiert Koeppen einen Satz von Karl Kraus)

 

 

Ergänzungen zu Leben und Werk

 

Geb.23.06.1906 in Greifswald

Gest.15.03.1996 in München

 

-     ungewolltes, uneheliches Kind, macht ihn von Anfang an zum Außenseiter

-     Mutter setzt alles daran sozial aufzusteigen, doch sie wird sozial deklassiert

-     er wächst in Armut in einer geächteten Familie auf

-     er empfindet Sympathie für die anderen Außenseiter der Stadt

-           er verteidigt sein „gefährdetes ich“ gegen alle von außen herangetragenen

      Ansprüche

-          er entzieht sich den Anforderungen einer militärisch geführten Schule

      er beschäftigt sich schon sehr früh mit Literatur. Sie liefert ihm die Möglichkeit, 

      sich mit sich selbst zu beschäftigen

-          er findet in ihr Nahrung für seinem Traum von einem Leben frei von 

      Diskriminierung und bürgelichen Zwängen

® Affenkönig

          (Aus: W.Koeppen: Die elenden Skribenten, Aufsätze;

                 hrsg. Marcel Reich-Ranicki, Suhrkamp   1981)

-         Auszeichnungen, z.B.1962 Georg-Büchner-Preis erschrecken ihn eher, als dass sie ihn freuen, weil sie von seiner Generation, die sich ja immer hinauf Hitler geeinigt hatten“ verliehen werden

-         Anonymität war ihm für seine persönliche Existenz wichtig

®    Flucht vor Erwartung und Beifall

 

® Büchner Rede

           (Aus: W.Koeppen: Die elenden Skribenten, Aufsätze;

                    hrsg. Marcel Reich-Ranicki, Suhrkamp   1981)

-         seine intellektuellen Protagonisten

       (Philipp „Tauben im Gras“; Keetenheuve „Treibhaus“  

       und Siegfried Pfaffrath „Tod in Rom“) leben von autobiographischem Material

      =Erfahrungen, des desintegrierten Individiums, sich und anderen fremd

 

 

Wolfgang Koeppen:

Autor für sehr wenige, obwohl schon sein frühes Werk von der Kritik günstig aufgenommen wurde. Erst die Triologie der 50iger Jahre fand starkes, aber geteiltes Echo.

Þ insgesamt wenig gelesener Autor

 

 

Wolfgang Koeppen war der bedeutenste Chronist der westdeutschen Nachkriegsgeschichte.

Er gehört in die erste Reihe deutscher Autoren.

Er gehört nirgends dazu. Er war kein Nazi. Er gehörte nicht zur intellektuellen Elite der Immigranten, z.B. Brecht, Mann. Auch nicht danach zur Gruppe 47 (Gruppe von Autoren) beschäftigen sich mit äußeren und vorallem inneren Trümmern (Böll, Grass, Borchert)

® Koeppen war ein Außenseiter. Koeppen gehörte nicht zu den Traditionalisten der

    Kriegsheimkehrler, Sinnsucher und Wiederaufbauer.

 

Nachkriegstriologie

 

= Attacke eines politischen Autors, der der jungen BRD die Wiederkehr der alten Nazis und

   die Restauration des alten Geistes vorwirft

 

Einführungsbeschreibung aus „Tauben im Gras“ und der Schlussabschnitt geben Auskunft über die Zeit („kurz nach der Währungsform“ Vorwort 2. Auflage), die Koeppen beschreibt.

= „ Atempause auf einem verdammten Schlachtfeld“ Bild: Flieger über der Stadt

® Deutschland lebt auseinandergebrochen im Spannungsfeld zwischen östlicher und westlicher Welt, die einander feind und fremd sind.

= Spannung, Konflikt, Verschärfung, Bedrohung vor allem

-          wegen Öl

-          Aufrüstung, die das Leben verteuert

= Atomversuche, Atomfabriken

-          Wiederbewaffnung des westlichen Teils des zerbrochenen Deutschlands wird diskutiert

-          Deutschland soll nicht neutralisiert werden

-          Das Elend der Vertriebenen

-          Rückführung der Millionen Zwangsarbeiter

 

Koeppens Roman beinhaltet einen Tag dieser „Atempause auf dem Schlachtfeld“. Hierbei geht es auch um das Schlachtfeld im Kleinen, um das tägliche, alltägliche Schlachtfeld auf dem die Vorbereitungen für eine abendliche Party und den Vortrag eines berühmten Schriftstellers eine Art Rahmen bilden.

Restauration des „alten Geistes“ zeigt der Schluss des Romans auch formal.

S.235 (Neuer Roman)

„Der Herausgeber einer Illustrierten fragte mich, warum die Romanschreiber heute nicht mehr den Satz zustande bringen „Martha schloß das Fenster“. Diese Frage ist ein für allemal verneint. Würde der Satz noch einmal geschrieben werden, wäre das Fenster kein Fenster, und Martha wäre Gott weiß wer.“

Aus: Koeppen: Die elenden Skribenten, Aufsätze; hrsg. Marcel Reich-Ranicki, Suhrkamp

         Aus dem Aufsatz: Was ist neu am Neuen Roman?

„Der Aufbruch wird verhindert.“

® Sätze wie dieser sind wieder möglich.

„Mitternacht schlägt es vom Turm.“

„Ein Kalenderblatt fällt.“

=Martha schließt wieder das Fenster.

 

Folgende Ausführungen beziehen sich in erster Linie auf den Roman „Treibhaus“

 

= Portrait der herrschenden Klasse, die weiß wo es lang geht

= Portrait des Parlamentarismus als abgekartetes Spiel, bei dem der Sieger fest steht

    -Held = SPD Abgeordnete Keetenheuve

              = zu empfindsam 

              = zu schwach

Þ keine Identifikationsfigur, die, wenn auch auf verlorenem Posten, kämpft

-          Keetenheuve leidet

             - am Schmutz der Politik

             - den Bonner Verhältnissen

             - an sich selbst

             - an einer unglücklichen Liebe

             - an den Schreckensbildern, die für ihn deutsche Tüchtigkeit und deutsche

               Todessehnsucht darstellen

             - als Intellektueller an der Macht der Fakten

-          Keetenheuve verachtet

             - die Macht, die er wollen muss

             - er ist Opfer seiner eigenen machtfernen, besessenen

             - Utopie = Glück und Liebe kann es dauerhaft geben

 

 

Verbindung zu Koeppen

-          beide können nicht dazugehören

-          sind  beide Außenseiter

-          alle Helden bei Koeppen sind einsam wie er selbst

-          der unglückliche liebende Student Friedrich in „Eine unglückliche Liebe“

-          Baumeister Johannes von Süde in „Die Mauer schwankt“

-          Philipp in „Tauben im Gras“

-          Keetenheuve „Treibhaus“

-          Komponist Siegfried „Pfaffrath“ in „Der Tod in Rom“